[Rezension] Sue Prideaux - „Ich bin Dynamit. Das Leben des Friedrich Nietzsche“

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Als Friedrich Nietzsche am 25. August 1900 im Obergeschoss des von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche ins Leben gerufenen Nietzsche-Archivs in Weimar verstarb, war er seines Lebenswerks entmächtigt, streng isoliert und schwer erkrankt. Sein Vermächtnis bestand bis 1890 - also bis zum Beginn seiner bis ans Lebensende andauernden geistigen Umnachtung - aus einigen hundert verkauften Exemplaren seiner Bücher und einer schier unendlichen Anzahl an Briefen und Korrespondenzen, die im Laufe der Jahrzehnte an Freunde und Weggefährte verfasst wurden. Es schien, als wäre seine Schwester die treuste Verfechterin seines Schaffens, die sich selbst in den Dienst der Worte des Bruders stellte und das Werk vollendete, das Friedrich Nietzsche hinterließ. So zumindest war es gedacht.

Mit einer Reihe gezielter Unwahrheiten und trügerischer Wahrheitsbeugungen gelang es Elisabeth Förster-Nietzsche das Werk ihres Bruders in ein Licht zu rücken, das sie selbst und ihre ideologischen Überzeugungen wiederspiegelte. Auf diese Weise gerieten aus dem Kontext gerissene Zitate zu volksverhetzender Rhetorik, die nur wenig später von den Nationalsozialisten zu propagandistischen Zwecken missbraucht würden. Adolf Hitler schenkte sie gar den Spazierstock ihres erkrankten Bruders. Nietzsches langjährige, beständige Opposition zum rasenden Antisemitismus seines Freundes Richard Wagner passte freilich nicht ins gewünschte Narrativ und wurde folglich, wie zahlreiche andere, relevante Details, in ihrer eigenen Biographie „Das Leben Friedrich Nietzsches“ nicht weiter erwähnt.

Es existieren bis heute Unklarheiten über das Werk Friedrich Nietzsches, seine Rezeption unter Zeitgenossen, reihenweise biographische Details und nicht zuletzt seine Erkrankung, die ihn zeitlebens plagte. Mit „Ich bin Dynamit: Das Leben des Friedrich Nietzsche“ gelingt es der Kunsthistorikerin und Biographin Sue Prideaux die letzten Puzzleteile unter Zuhilfenahme neuester Erkenntnisse zusammenzusetzen und Nietzsche in einer Gesamtheit darzustellen, die der Fülle seines Schaffens und seiner biographischen Verkettung an Ereignissen gerecht wird.

Scharfsinnig und detailliert schildert sie den Werdegang eines Pfarrersohnes, der sich früh und voller Begeisterung selbst für den Weg der Theologie entschied, zum genialen Querdenker und beißendem Religionskritiker. Zu keinem Zeitpunkt wird der Blick in Richtung Familie und Weggefährten gescheut, alles findet Beachtung und wird in die stets nachvollziehbare Entwicklung Nietzsches eingebettet. Völlig zu Recht finden schillernde Gestalten wie Richard Wagner, langjährige Gefährten wie Erwin Rohde und prägende Liebschaften wie die Proto-Femme Fatale Lou von Salomé ausschweifend Erwähnung. Der Autorin gelingt das Kunststück, ein flächendeckendes Abbild der Lebenswelt ihres Protagonisten zu zeichnen, ohne je von den Kernereignissen seiner eigenen Biographie abzuweichen. Auf diese Weise sind sämtliche Details auf eine natürlich wirkende und spannende Art miteinander verbunden. 

Das Kerngebiet Europas des 19. Jahrhunderts wird mit Hilfe einer Hand voll Charakteren zum Leben erweckt. Nietzsches ständige Ortswechsel, die zum Ende seiner aktiven schriftstellerischen Karriere beinahe zum Zwang werden, laden ein zu einer Erzählung wundervoller Beherbergungen und Ortschaften - wir reisen gemeinsam mit Nietzsche im Zug nach Nizza, schauen Richard Wagner bei seiner Komposition des Nibelungenringes am heimischen Flügel in Tribschen über die Schulter und besteigen Berge im Oberengadin nahe Sils Maria, das Nietzsche zeitweise als den schönsten Ort der Welt betrachtete.

Strukurellen und erzählerischen Zusammenhalt erhalten die Lebensabschnitte Nietzsches auch durch ständige und nachvollziehbare Darstellungen seiner philosophischen Werke. Prideaux gelingt auf kongeniale Weise die Verwebung von Gemütszustand, Aufenthaltsort und Denkgegenstand, sodass die verschiedenen Etappen seines Werkes anschaulich und dramaturgisch effktiv mit den Lebensumständen, seiner Gesundheit und den Personen, die aktiv auf Nietzsche einwirkten, verbunden sind. Es gelingt auch fachfremden Lesern, die sich mit Philosophie im Allgemeinen und Nietzsche im Speziellen noch nie oder nur wenig beschäftigt haben, die teils komplexen und sprunghaften Standpunkte Nietzsches und seiner daraus resultierenden Schlussfolgerungen und Aphorismen zu folgen.

Und eben darin liegt das große Kunststück dieses Buches: Es sprengt alle Genregrenzen, die zwischen Biographie, historischer Fachliteratur, philosophischer Begleitlektüre und Belletristik bestehen mögen, schafft das Kunststück einer mitreißenden, ergreifenden Erzählung, die den historisch-gesellschaftlichen Kontext und die narrative Authentizität nie aus den Augen verliert, und lässt eine der schillerndsten europäischen Gestalten des 19. Jahrhunderts in gänzlich neuem Licht erstrahlen. Es ist, konzis, Dynamit. Ein Meisterwerk. 


Eckdaten

Aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer und Hans-Peter Remmler
Orig.: "I am Dynamite!/A Life of Friedrich Nietzsche" 
Autorin: Sue Prideaux
Verlag: Klett-Cotta
Ausgabearten: Hardcover mit Schutzumschlag
Seitenanzahl: 560 Seiten, zahlreiche Abb.  
ISBN: 978-3-608-98201-5
Preis: 26,00€ 

Klappentext

»So wie diese sollte jede Biographie sein – fesselnd, intelligent, bewegend. Einfach ein Knaller.« Sarah Bakewell

Wir erleben das kurze, kometengleiche Leben des Friedrich Nietzsche hautnah mit: Von der beschaulich-christlichen Erziehung, überschattet durch den mysteriösen Tod des Vaters, folgen wir Nietzsche nach Basel, in die Einsamkeit der Schweizer Alpen, erleben das Pathos seines Zarathustra, seine Dramatisierung des Nihilismus und seinen Absturz in den Wahnsinn. Ein einzigartiges Leben – begeisternd, originell, erschütternd, berauschend, filmreif erzählt.
Nietzsche ist ein philosophisches Ereignis und eine weltgeschichtliche Existenz ohnegleichen. Alle Generationen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat er beeinflusst und geprägt – mehr als Karl Marx. Nietzsche sprengt die Philosophie, die Bildung, das Bürgerliche, das Menschliche-Allzumenschliche, vor allem aber das 19. Jahrhundert in die Luft. Wie Nietzsche von sich selbst sagte, ist er »kein Mensch, sondern Dynamit« und bis heute einer unserer erstaunlichsten und unheimlichsten Zeitgenossen geblieben. Nietzsche, einzigartig und tragisch – so, wie wir ihn noch nie gesehen haben.

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